Tempo

Nachrichten aus Umtata, Teil 22, oder: Die Ausnahme von der Regel des vollendeten Schlurfens

Luyanda ist zu spät. Also kommt Luyanda angerannt. Was nun allerdings nicht heißt, daß Luyanda schneller hier ist als wenn er normalen Schrittes gekommen wäre. Luyanda rennt auch gar nicht, um schneller hier zu sein. Das würde ja nichts mehr nützen, denn er ist doch sowieso schon zu spät. Luyanda rennt erst in Sichtweite und nur um mir zu zeigen, daß er weiß, daß er zu spät ist und daß es ihm leid tut. Tempo als Entschuldigung.

Die Männer Umtatas haben für diese Art der Entschuldigung beim Zuspätkommen einen ganz besonderen Laufstil entwickelt. Aus der Entfernung sieht er aus wie eine Zeitlupe auf den Endspurt im 10.000-Meter-Lauf. Mit letzter Kraft rudern Arme und Beine um den wippenden Körper und schieben ihn durchs Ziel. Doch wie beim Jogger vor der Ampel treten die Füße dabei immer wieder fast den gleichen Fleck. Tempo als Simulation.

Nun ist es aber auch wieder nicht so, daß in Umtata jede Verspätung mit simuliertem Tempo entschuldigt würde. Es wäre auch nicht auszuhalten, die Stadt verstopft von Ausdruckssprintern im Schneckengang. Daß der verspätete Luyanda die letzten Meter rennt, ist ein Zeichen von Respekt. Nicht seine Verspätung ist das Problem, denn schließlich kommt in Umtata immer alles irgendwie zu spät, sondern meine Ungeduld beim Warten. Und weil er die ahnt, rennt Luyanda. Tempo als Freundschaftsbeweis.

Wäre Luyanda kein Mann, würde er bestimmt nicht rennen, auch nicht simuliert als Entschuldigung oder Freundschaftsbeweis. Frauen rennen nie in Umtata. Wahrscheinlich liegt das daran, daß viele von ihnen schon als Mädchen mit schweren Wassereimern auf dem Kopf vom Fluß kamen. Später sind es dann die Einkaufstaschen oder auch mal eine Bierkiste, die sie sehr aufrecht durchs Gewühl balancieren. Schneller als im Schrittempo geht das nicht.

Rennen würden sie nie, aber auch Frauen haben es manchmal eilig. Meistens dann, wenn sie gerade die Straße queren, und um die Ecke prescht ein Minibus. Wer jetzt nicht Platz macht, ist verloren. Wenn Frauen in so einem Fall von der Straße hasten, legen sie sich zurück und setzen die Füße möglichst senkrecht auf den Boden wie BremerInnen bei Glatteis. Allerdings ist der Grund dafür in Umtata nicht unter den Schuhen, sondern auf dem Rücken zu suchen. Dort schläft nämlich meistens ein Kleinkind. Und damit es nicht aus der Haltedecke rutscht, müssen Frauen gleiten wenn sie eilen. Irgendwann wird diese Bewegung so sehr zur Gewohnheit, daß sie bleibt, auch wenn der letzte Enkel vom Rücken gestiegen ist.

Nachdem jetzt solange vom Tempo die Rede war - und damit von der Ausnahme im Leben Umtatas - soll nun noch kurz von der Regel berichterstattet sein: dem Schlurfen. In Latschen kann das ja jeder. Aber in Stöckelschuhen den Fuß vom Ballen bis zur Ferse durchzuschleifen, den Po zu schwingen und dabei zwischen Sohle und Linoleum ein gelassen weiches und doch entschieden langsames Schmatzen hervorzubringen, das ist eine Kunst, die nirgendwo besser beherrscht wird als im örtlichen Postamt. Fünf Leute vor mir in der Warteschlange am Expreßgutschalter? - zehnmal entführt mich das optisch-akustische Erlebnis der hin- und herwandelnden Postbeamtin so betörend entspannt ins Hier und Jetzt der subäquatorialen Schalterhalle, daß ich, als ich plötzlich dran bin, völlig vergessen habe, was ich eigentlich so eilig erledigen wollte. Tempo, das ist in Umtata vor allem die Ausnahme von der Regel des vollendeten Schlurfens.

Dirk Asendorpf

(taz-Bremen, 1999)

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